Donnerstag, 19. Mai 2011

Endstation Zell.



[Die Fußnoten sollen dem besseren Verständnis dienen und versuchen bestmöglich spezifische Mundartausdrücke ins Deutsche zu übersetzen.]

„Zell am Pettenfirst ist eine Gemeinde in Oberösterreich im Bezirk Vöcklabruck im Hausruckviertel mit 1170 Einwohnern.“[1]
Davon sind 700 alt, beeinträchtigt und/oder dement, 300 verbraucht, auf dem Weg in Stadium 1 und 170, die noch die Chance hätten, abzuspringen. Die Zahl der Verrückten, Wahnsinnigen, Eigenbrötler, Außenseiter und Auswärtigen, Ausländer, ist konstant hoch, circa 100-200, je nach Wetterlage.
Irgendwo dazwischen bin ich.

Die Fläche von Zö[2], wie man hier sagt, beträgt 14 km², 33,8% der Fläche sind bewaldet und 58,1 % werden landwirtschaftlich genutzt, das ergibt 8,1% für durchschnittlich 84 Menschen pro km².
Es ist so eng, dass dir der linke und der rechte Nachbar vom Essen direkt in die Seele schaut, zu schauen glaubt. Die Erkenntnisse aus dieser Seelenbeschau werden auf ihre eigene Weise schneller verbreitet, als es Internet oder Handy je schaffen würden. Mundpropaganda. Tratschweiber. Alle haben sie zerfetzte Mäuler, jeder zerreißt jeden und die Jugend ist kein Stück besser. Ich auch nicht.
Über Liesels Krankheit weiß man zwischen Bäckerei, Kirchenplatz, Wirtshaustisch und Fußballplatz besser Bescheid als sie selbst, Josef hatte was mit Resi, der Schlampe, die könnte wiederum Bertha vergiftet haben, aus Eifersucht, weil die schwanger ist, vom Seppi, der doch a woama Hund[3] sein soll.
„In der Stadt lebt man zu seiner Unterhaltung, auf dem Land zur Unterhaltung der anderen“ hat Oscar Wilde angeblich einmal gesagt.

Heute Nacht habe ich geträumt, dass da Jaga[4] meinen Hund erschossen hat, weil der öfter davon läuft. In Zell herrschen andere Gesetze. Und mit ihren Wäldern, ihren Feldern, ihrem Wild und ihrem Hof kennen die Bauern und die Jäger keinen Spaß. Was sich da unerlaubt aufhält, wird beseitigt, Gift für die Marder, das die Katze dann frisst. Oder sie verliert eine Pfote, statt der Fuchs den Kopf.
Reden tut man in Zell nicht so gern wie handeln, im Handeln sind alle schnell. Aber wenn mir einer meinen Hund erschießt, kann ich auch schnell werden, hab ich mir vorgenommen.

Das Haus, in dem die Asylwerber, die Ausländer, gewohnt haben, ist abgebrannt. „Gschiagt erna recht“[5] will niemand gesagt haben, jeder war sofort zur Stelle um zu helfen. Die Zeller, die halten zusammen, spenden jedes Jahr Blut und für mindestens fünf Vereine, darunter auch die Feuerwehr.
Das sind nämlich tolle Burschen, selbst bumdialzua[6] rücken sie noch mit Blaulicht an und retten Leben. Gesellig sind sie sowieso immer. Sogar ein eigenes Seefest veranstalten sie. Schade eigentlich, dass die von Enten verschissene Schlammpfütze jetzt auch noch überbaut wurde, für neue Feuerwehrautos und Gemeinschaftsräume, z´wegn da[7] Geselligkeit, aber ein Seefest kann man ja immer feiern.

In Zell wird nämlich gerne gefeiert und viel, jede Gemeindezeitung und auch das Kirchenblatt sind voll von Veranstaltungen – mindestens eine pro Verein und Monat - man will sich ja nichts nachsagen lassen. Wer nicht säuft, säuft ab. Geht verloren, denn dabei ist nur, wer mitmacht. Mitmachen, das heißt bei einem Verein sein. Es gibt in Zell neben der Feuerwehr noch die Kleintierzüchter, den Tanz- und Singkreis, den Sportverein, die Musikkapelle, irgendwelche kleineren Kultur- und Theatergruppen, diverse politische Verbände, die Kirche samt ihren Unterorganisationen und seit Neuestem auch die Landjugend.

Deren Aufgabe ist es, Brauchtum und Traditionen, echte Werte zu vermitteln. Das funktioniert, indem man sich bei jeder unmöglichen und absurdesten Gelegenheit eine Tracht überwirft, sich hineinzwängt. Denn Dirndlkleider müssen so eng sein, dass man nicht mehr atmen kann, aber oben allerlei zum Vorschein kommt, was den Lederhosenträgern den Atem rauben soll. „Geile Depf hod de Oide“[8] ist die Belohnung für diese Mühen. Wenn dann der Lederhosenträger das Dirndl durch seine Wortzaubereien und Liebkosungen, eher aber durch Flüssiges in wahre Rauschzustände versetzt hat, darf er am nächsten Tag sogar mit einer Trophäe beim Frühschoppen im Wirtshaus angeben. Dann zieht er stolz die Lasche der Lederhose nach unten, auf der fünf Unterschriften seiner verehrtesten Herzallerliebsten der letzten Nacht eingraviert sind - zur Erinnerung, oder doch als Gedächtnisstütze? Die Suche nach dem richtigen Weib für Haus und Hof ist lang und beschwerlich. Wichtig ist nur, man hat welche.

Das besagte Wirtshaus, von dem gibt es eigentlich zwei, die sich gegenüberliegen, aber ein völlig verschiedenes Zielpublikum ansprechen, dazu kommen noch ein paar im Umland, sollte man einmal aus irgendwelchen Gründen nicht rechtzeitig den Weg ins Zentrum finden, vorm Durst. Durst hat man in Zell nämlich immer, am liebsten freitagabends und nach der Kirche, diese Spezialform wird Frühschoppen genannt.

Da trinkt der eine oder andere schon mal einen über den Durst, sei es damit die Frauen schöner, die Probleme kleiner oder die Schmerzen dumpfer werden. Man kennt sie, die Gewissen, aber ein Alkoholproblem hat hier niemand. Sie haben sich im Griff, trinken nur gegen den Durst, beim Fortgehen, und nur, weil heute so ein beschissener Tag war. Und wieder schläft A. auf dem Tisch ein. Rund um ihn wird weitergefeiert, so mancher hat bei Glücksspielen schon seinen Hof verloren, früher natürlich. Beim Krotzen[9] und Tarockieren[10] geht es immer noch um alles. Die Ehre.

Hie und da geht man dann doch noch aus, fuatgeh,[11] wer noch kann, man will ja nicht in der Provinz versumpfen. Es fällt allen schwer, sich zwischen manchmal bis zu drei Locations, Lokalen, Festln[12], Parties zu entscheiden. Eigentlich ist es egal, wo man Kopf und Bauch vergiftet, die Jugend der umliegenden Metropolen trifft, über die Arbeit und die Ungerechtigkeit des eigenen Lebens jammert und wiederum die Herzensdame sucht. Bier gibt ´s überall.

Dann gibt es noch die, die nicht einmal die kleine Außenwelt der nächsten Bar noch interessiert, weil sie ihre Zukunft schon geplant haben. Über Optionen haben sie nie nachgedacht, die einzige Option heißt Endstation Zell. Arbeit, Mann, Hochzeit, Haus, Kind, Enkel, Friedhof. Der Zug fährt spätestens mit 20 ab, Ankunft und Abfahrt hier, bei uns, alles inklusive. Mit dem Richtigen fürs Leben muss man sich nicht mehr unters Partyvolk schmeißen, nicht mehr arbeiten gehen, nicht mehr Zeitung lesen, nicht mehr in die Ferne schweifen und denken hat man sowieso schon lange aufgegeben. Wer einmal zusteigt, die Türen schließt und abfährt, kommt garantiert an.
Die Scheidung, die gibt es in Zell noch nicht, nur unter Zuagroasten,[13] Neimodernen,[14] Zecken[15] oder dergleichen ungläubigem Gesindel. Hier ist die Ehe wirklich noch ein Bund fürs Leben. Die zweite Liebe bleibt nur Affäre, wer 50 Jahre den Schein wahrt, wird bewundert und gefeiert. Goldene Hochzeit. Vor allem die Jugend hält Traditionen wieder hoch.

Auch die Tradition des sonntäglichen Kirchengangs, die sozusagen eine Bürgerpflicht ist, selbst wenn man direkt vom letzten Bier in die letzte Bank fällt, und hier seine erste Stunde Schlaf erwischt. Man war da, ist sicher und behütet, wird geweiht und gehört zu den Guten. Die Guten erkennt man an dem Heiligenschein, der sie begleitet, beim Scheißen, beim Anschreien, beim Masturbieren, beim Hintreten, beim Missbrauchen, beim Bumsen[16] und beim Fremdbumsen. Beim Maulzerreißen sowieso.
Sein Glanz kann noch aufgewertet werden, indem man sich zu freiwilligen Tätigkeiten im Verein meldet. Man kann singen, lesen, musizieren oder Geld eintreiben, jeder was ihm liegt.
Damit die Kleinsten auch schon verstehen, wie toll der richtige Glaube ist und wie nett der Jesus zu uns war, obwohl ihm niemand je begegnet ist, wird schon im Kindergarten das erste Mal gebeichtet, aus der Bibel vorgelesen, gebastelt für den Herrgott und zu diversen Festen Blumen gestreut. Die ganz braven Mädchen dürfen bei den Goldhauben mitgehen und Ministranten wollen so bald und so lange wie möglich alle sein. Natürlich nur wegen dem Glauben, nicht wegen dem Kleingeld.
Nur die Ausländer aus dem abgebrannten Haus nicht.

Das habe ich gedacht, bevor ich nach Wien ging, konnte es kaum erwarten zu entkommen. Das Entkommen hielt ich für die leichteste und selbstverständlichste Sache der Welt, einfach alle Brücken sprengen und etwas Neues aufbauen.
Unabhängig, stark, selbstbewusst, reif und superlässig, gechillt und alternativ ist die Studentenszene in Wien, genau so wollte ich sein. Kein Landei sondern eine Frau von Welt, und dazu passte die Adresse nun einmal nicht.
Ich gebe oft noch lieber die Wiener Adresse an, aber wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, ist meine Antwort mittlerweile klar. Eigentlich wusste ich es immer.
Die Zuagroaste, die im Alter von sechs Jahren in dieses 1200 Seelen Dorf mitten im Hausruck, mitten im Nirgendwo, kam, vom Stadtrand aufs Land, hat genau diesen Ort sehr lieb gewonnen. Die Zuagroaste bin ich wahrscheinlich noch immer, „wem gherstn du o“[17] höre ich des Öfteren, manchmal ärgere ich mich. Aber irgendwie mag ich sie alle, auch die komischen Käuze, die Menschen, bei denen man sich nicht sicher ist, von welchem Tier sie abstammen, die Nachkommen der großen Sippen, die sicher auch wegen Inzucht (nicht nur in der Vergangenheit) alle denselben Namen tragen. Auch die gescheiterten Existenzen, denn jeder gehört mindestens ein Mal im Leben zu ihnen.
Wien ist der Abstand, den ich gebraucht habe, um zu wissen, was eine Hauptstadt ist und was Heimat bedeutet. Ein Begriff, den ich nie verwenden wollte, weil er für mich so politisch ist.
Heimat kann überall sein, ein Stück davon in Wien, ein Stück habe ich überall dort gelassen, wo ich schon war, auf Reisen und bei Abenteuern, ein Stück ist in meinen Freunden und meiner Familie, eines beim Pferd im Nachbarort und eben auch ein Stück dort am Land, in Zell am Pettenfirst, meiner Hauptstadt.
Eine Hauptstadt ist nämlich ein Zentrum, sagt Wikipedia, und wenn ich in Vöcklabruck den Zug verlasse, ins Auto steige und noch 8km fahre, dann kenne ich jede Katze und jeden Baum, fällt mir jedes neue Haus auf und auch das kleinste Plakat am Straßenrand.
In Zell kümmert man sich zu viel darum, was im Leben des Nachbarn passiert, aber man kümmert sich darum, während andernorts Herr Müller von Stock 4 drei Wochen lang unentdeckt in der Wohnung liegt, in seinem Blut.
Mittlerweile gehe ich selbst freitags zum Stammtisch der Dorfjugend, weil ich nicht nur die kunterbunt vielfältigen Menschen, die mindestens so bunte Hunde sind, wie in der Stadt, auch die oberflächlichen, sinnleeren und verblüffend tiefgehenden Gespräche und die bierschwangere, Bradlfett[18] schwitzende Atmosphäre mag. Ich bin ein Teil davon.
Und wenn mir alles trotzdem zu viel wird, mich ein Ekel überkommt und die Wände immer enger zu werden scheinen, dann bin ich immer noch eine der Glücklichen, die einen Fluchtweg hat. Ich steige in den Zug nach Wien, steige dort aus, bin frei und genieße es, zu tun und zu lassen, ohne Rechenschaft abzulegen, gegenüber niemandem - auf Zeit.

Ich weiß nicht immer wohin der Zug fährt, den ich nehme, in welchen Bahnhöfen er hält und wo ich um- oder aussteige.
Zell am Pettenfirst ist bestimmt nicht meine Endstation, aber es wird immer meine Abfahrt sein.


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Zell_am_Pettenfirst
[2] = Zell
[3] = ein Homosexueller
[4] = Jäger
[5] = Das geschieht ihnen recht!
[6] = sehr betrunken
[7] = wegen der
[8] = Die Frau hat schöne Brüste.
[9] = ein Kartenspiel
[10] = Tarock spielen
[11] = ausgehen
[12] = Zelt- und Hallenfeste, die in dieser Gegend sehr weit verbreitet sind
[13] = Zugezogene, nicht in Zell Geborene ohne Zeller Stammbaum
[14] = „Neumoderne“, das Gegenteil von Konservativ-Traditionellen
[15] = meistens Grünwähler, oft Dreadlocksträger, Alternative
[16] = miteinander schlafen, vulgär
[17] = zu welcher Familie gehörst du, wo ist dein Stammbaum?
[18] = Bratenfett, Bratfett

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